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    Ich bin dagegen, dafür sein zu müssen

    Freiheit sei “Einsicht in die Notwendigkeit”, dieser Satz von Hegel hat es in sich. Und genau dieser Fall ist jetzt eingetreten. – Corona war nur der Vorkrieg, danach kam wirklicher Krieg und auch wieder die obligatorischen Denkverbote. Aber mit der entstandenen Zerrissenheit zwischen Herz und Kopf rechnen und leben zu lernen, ist das Gebot der Stunde.

    Wie diese Wirklichkeit erzeugt und arrangiert wurde, ist das eine. Aber nun ist dieser Krieg in der Welt und daher stellt sich die Frage, wie damit umzugehen sei. – Und wieder sind die USA verantwortlich für die entstandene Situation. Man hätte einen anderen Putin haben können, aber die USA wollten eben diesen und keinen anderen. – Es liegt nicht im Interesse der USA, daß sich europäischer Geist und russische Weite zusammentun. Und natürlich wäre dabei sehr viel mehr Demokratie zu wagen gewesen, endlich auch in Russland, wo man von der Zarenherrschaft in die Diktatur und dann in Autokratie und Oligarchie geraten ist.

    Was wäre geworden, wenn EU und RU im “Europäischen Haus” näher zusammengekommen wären, anstatt sich auseinander dividieren zu lassen? Natürlich wäre ein anderer Putin in einem anderen Russland am Ruder. Putin hätte ernten können, was Gorbatschow gesät hat. Ob er sich dann auch so demokratiefeindlich und despotisch entwickelt hätte, ist zwar noch immer eine Frage der Spekulation. Aber gerade auch die Interessen von Europa sind immer wieder mutwillig verletzt worden. Reihenweise wurden Nachbarstaaten von den USA destabilisiert, bis sich die Flüchtlingsströme in Bewegung setzten, was dann allenthalben zu unguten Tendenzen geführt hat.

    Jean-Léon Gérôme: Die Wahrheit kommt aus ihrem Brunnen (1896).

    Wer oder was ist also der “Feind”? Es sind demokratiefeindliche Staaten mit religiösen oder ideologischen Identitäten, die dazu neigen, Kriege anzuzetteln, um Demokratien zu hintergehen. Heuchelei spielt in der schwarzen Kunst der Kulissenschieberei eine ganz große Rolle. Darin liegt die Meisterschaft der USA, selbst herbeigeführte Entwicklungen so erscheinen zu lassen, daß die Welt wieder einmal in die Guten und die Bösen unterteilt werden kann. Dabei sind die Banker von Blackrock und die Söldner von Blackwater nur zwei Seiten derselben Medaille. Die dunkelsten Machenschaften werden von Privatarmeen betrieben, so daß die Staaten im Lichte der Öffentlichkeit ihre Hände heuchelnd in Unschuld waschen können.

    Nicht die Medien sind das Problem, sondern manche ihrer Vertreter und vor allem jene darunter, die sich selbst zu Gesinnungswächtern ernannt haben und dazu neigen, mündige Bürger umerziehen zu wollen. Es ist einiges an neuer Unsicherheit entstanden, vieles, was verläßlich schien, hat sich als brüchig erwiesen. Die entwürdigenden Verunglimpfungen der Andersdenkenden ist gerade nicht der Ausdruck einer offenen Gesellschaft mit Demokratie und Gedankenfreiheit.

    Die Impfskeptiker von gestern sind die “Putin-Versteher” von heute. Die Pazifisten haben die Rolle der “Covidioten” übernommen, und die Russen sind wie die Ungeimpften, die auch schon mal zur Umerziehung in Beugehaft genommen werden sollten, damit sie zur Einsicht kommen und sich “bessern”.

    Alle diese Auseinandersetzungen sind allerdings auch “Anpassungsschwierigkeiten” an eine der größten Medien-Revolutionen seit Erfindung der Schrift. Urheber und Verstärker bei alledem ist die Kommunikation im Netz der Netze. Es läßt sich in der neueren Menschheitsgeschichte nachweisen, daß neu aufkommende Medien wie Sprache, Schrift, Buchdruck, Presse und Radio stets ganz gewaltige gesellschaftliche und kulturelle Umbrüchen auslösen.

    Derweil halten sich die Despoten und Schlafwandler aller Zeiten viel darauf zugute, daß sie ja doch nur “gerechte” Kriege führen. Aber nicht auf die angeblich so “große” Vergangenheit längst untergegangener Reiche kommt es an, sondern auf die noch viel größere Zukunft des Menschseins. – Der geheime Plan der Natur, die im Menschen ein Auge aufschlägt, um sich selbst zu betrachten, ist allen Tendenzen und Latenzen im Zuge der Menschheitsentwicklung zufolge sehr eindeutig. Es geht um mehr Selbstorientierung, Individualität, Selbstbestimmung und Emanzipation, also um immer weniger angeblich fürsorgliche Entmündigungen.

    Die Schafe brauchen keine Guten Hirten mehr, um sich führen, bevormunden und klein halten zu lassen. Der Despotismus muß zu immer mehr Gewalt greifen, weil er nicht mehr geduldet wird.  Emanzipation steht auf dem Programm der Weltgeschichte. Das Totalitäre muß untergehen, weil es der Menschheit kaum mehr zuträgliche Dienste leistet, sich tatsächlich weiter und höher zu entwickeln, durch Aufklärung, Bildung und individuelles Urteilsvermögen.

    Im Verlauf der nächsten Zeit wird sich zeigen, wie wenig sich digitale Kommunikation wird zähmen lassen, so wie zuvor noch Menschen gezähmt, gebrochen und dressiert wurden. Nicht nur diese Pädagogik, auch dieses Politik ist von vorgestern. – Die Gedanken sind frei und seit erst die freie Kommunikation hinzukommen ist, ist unangepaßtes Denken bald schon in aller Munde.

    Luther mochte seinerzeit den Buchdruck ganz und gar nicht, was ihn jedoch nicht daran gehindert hat, sich das neue Medium für seine Reformation zu Nutze zu machen. – Nicht einmal die Kirche hat darauf ihre despotische Macht zur Gedankenkontrolle wahren können, als der Buchdruck aufkam. Was erst wird sein, wenn die Kommunikation immer grenzenloser wird?

    “Dialektik” ist nicht das, was die Einpeitscher verkünden, sondern ein ständiges Hin und Her für alle diejenigen, die sich selbst ein eigenes Urteil bilden möchten. – Natürlich muß dieser Krieg so schnell wie möglich durch Verhandlungen beendet werden. Aber es gibt auch Akteure, die ihn gar nicht beendet sehen wollen, weil manche ihr eigenes Süppchen kochen. Solche Kriegsspekulanten können in allen erdenklichen Lagern sitzen, um je nach Interesse wahlweise im Schafsfell oder auch im Wolfsfell aufzutreten.

    Aber nun kommt dieser ominöse dialektische Umschlag: Die USA haben es durch Geheimpolitik und Kulissenschieberei wieder einmal  erreicht, daß es fast danach aussieht, als wäre so etwas wie “Armageddon”, dieser hochreligiös motivierte, apokalyptische “letzte Kampf zwischen den Mächten des Guten und denen des Bösen” nicht mehr ausgeschlossen werden kann. – Diesem religiös motivierten Wahn der USA stehen nicht minder unzeitgemäße Autokraten gegenüber, denen zuzutrauen ist, daß sie auch vor dem Einsatz von Atomwaffen nicht zurückschrecken. Und Europa ist jetzt der Spielball, um den gekämpft wird, auf den alle nur noch eintreten.

    Das viel zu lang währende 19. Jahrhundert schien endlich beendet worden zu sein mit der Wiedervereinigung. Es war ein unendlich langer Abschied von Monarchien und Militärdiktaturen auf der ganzen Welt. Zwei Weltkriege wurden heraufbeschworen, nur weil die Mächtigen im Zuge der aufkommenden Moderne “ihre” Macht nicht teilen wollten. Und das alles nur, um irgendwelche Privilegien nach Altväter-Sitte gegen demokratische und humanistische “Verirrungen” zu verteidigen.

    Nun ist ausgerechnet dieser reaktionäre Zeitgeist wie ein Untoter wieder auferstanden, in seiner ganzen unaufgeklärten, inhumanen und psychotischen Impertinenz. Und schon wird das Gerede wieder markig und zackig, wenn Waffen verschoben werden, als wären es Hilfsgüter ganz im Geist der Humanität.

    Friedenstauben tragen  jetzt Uniform, man soll das Selberdenken einstellen, weil schon wieder nur noch möglichst schnelles, radikales Handeln besser sein soll als jedes Nachdenken. – Es war schon seltsam, daß immer mehr Frauen den Krieg erklären in den Talkshows und nicht mehr die Riege derer, die doch immer auch den Eindruck erweckten, als wäre der Krieg auch eine Lust.

    Hat sich da etwas verändert? Hoffentlich ja, aber wenn, dann nur in der Theorie. Die Praxis steht noch aus, in dem Beweis, wie Demokratie und Humanität zu verteidigen sind. – Zunächst einmal ist diese Konstellation mutwillig herbeigeführt worden, der letzte Schritt war nur der, ihn dann auch zu beginnen. Die Falken haben es wieder einmal geschafft, den Tauben vorzugaukeln, sie seien welche von ihnen. – Die öffentliche Meinung ist das eigentliche Land, das angegriffen, verteidigt und erobert werden soll.

    Ich bin dagegen, daß ich dafür sein muß, der putinschen Aggression die Stirn zu bieten. Ich bin dagegen, daß dieser Krieg zwischen Demokratie und Diktatur mutwillig vom Zaun gebrochen worden ist. So wird die anstehende Lektion nur noch schmerzvoller. – Es kann aber auch nicht mehr angehen, daß eine Riege von Oligarchen die Welt, die Gedanken, Reichtümer und Meinungen einfach unter sich aufteilt und anderen nicht einmal mehr Gedankenfreiheit gewährt. Allein der Zynismus der Macht spricht Bände.

    Die erste wahrhafte Demokratie ist in Athen entstanden, in einer vergleichbaren Bedrohung durch das viel mächtigere Reich der Perser. Sogar das Orakel von Delphi wechselte vorsorglich die Seiten, riet zur Unterwerfung und setzte damit auf die falsche Seite, zum Nachteil der eigenen Reputation. – In dieser Situation konnte der hochwohlgeborene Adel die Lasten des anstehenden Krieges nicht mehr standesgemäß tragen und auch allein bewältigen. Es galt, eine Flotte zu bauen, um dann die Bürger zu motivieren, auf eigene Kosten in den Krieg zu ziehen. – Aber wer aus freien Stücken mit in den Krieg zieht, um die eigene Freiheit zu verteidigen, wird dieselbe Freiheit auch gegenüber dem eigenen Staat geltend machen, darauf entstand die erste Basis-Demokratie der Welt. 

    Mit der Renaissance führte die Wiedererinnerung an diese Epoche zum Humanismus, und dieser steht seither immer wieder neu auf dem Spiel. Herausgefordert wird er durch üble Menschenbilder im Auftrag von Religionen, Ideologien, Wirtschafts- und vor allem Machtinteressen. – Daraufhin wurden oft barbarische Exzesse in Szene gesetzt, die eine Weiterentwicklung der Menschheit immer wieder um Jahrzehnte, wenn nicht um Jahrhunderte zurückwarfen. Dagegen das humanistische Menschenbild hochzuhalten und auch zu verteidigen, ist selbst ein ehrenwertes Motiv.

    Aber gerade den Hitzköpfen ist in einer solchen Krise gar nicht zu trauen, schon gar nicht den Kulissenschiebern, und das allfällige Moralisieren ist nichts weiter als geistige Umweltverschmutzung. Da erdreisten sich manche, die eigene Einfalt zum Maß aller Dinge zu erklären. – Für wirklich große Fragen gibt es keine einfachen Lösungen, sondern nur eine reflektierende Haltung, die darauf Wert legt, die Würde zu wahren und Widersprüche auszuhalten. Nur dann sind wir wach genug, im Hin und Her zwischen Herz und Kopf immer wieder neu den Ausgleich für unsere Stellungnahmen und Entscheidungen zu finden.

    Das ändert jedoch nichts daran, daß auch andere Konsequenzen gezogen werden müssen, vor allem das Ende der Nibelungentreue. Seit Jahren haben die USA mit ihrer ganzen Politik der Demütigung, Herabsetzung und mit der gezielten Einflußnahme in der Ukraine darauf hingearbeitet, für Russland ein neues Afghanistan zu erschaffen. Aber nun soll nicht mehr nur Russland, sondern zugleich auch die EU ganz entscheidend geschwächt werden. Beide sollen zu Provinzmächten werden, um in der nächsten Auseinandersetzung mit China nicht mehr stören zu können.

    Zugleich besteht die Gefahr, daß der Humanismus erneut eine katastrophale Niederlage erlebt. Denn dieser ist es eigentlich, der gedemütigt werden soll. Die Angriffe richten sich gegen den alteuropäischen Geist, gegen Demokratie, Emanzipation, Individualismus, Meinungsfreiheit, Philosophie und gegen die Idee vom ewigen Frieden. – Europa muß sich endlich lösen von der Nibelungentreue zu den USA, die ihre Spiele spielen und ihre Interessen verfolgen, dabei aber immer wieder verheerende Konflikte auslösen, große Schäden anrichten und sehr viel neuen Haß erzeugen, der sich später wieder in neuen Konflikten entladen wird.

    Im Zentrum stehen momentan aber Despoten, die von vorgestern sind. Sie wissen, daß ihre Zeit längst abgelaufen ist. Daher machte Putin diesen letzten Versuch, nach alter Manier einfach zu erobern, was sich nicht standhaft genug zu erwehren versteht. Und die Kollegen unter den Despoten werden derweil sehr genau beobachten, wie weit Putin mit seinen Übergriffen kommt, um sich an seinem Schicksal ein Beispiel zu nehmen. Und dennoch gilt: Gewalt ist keine Lösung sondern nur ein Zeugnis geistiger Armut.

    Daher ist es nicht nur nachvollziehbar, sondern akzeptabel, mit dem Herzen anderer Meinung zu sein, im Widerspruch und im Widerstand zu den neunmalklugen Scharfmachern, die sich wieder einmal selbst berauschen am eigenen Wahn. – Wozu haben wir ein Gewissen? Was bedeutet uns die Fähigkeit, Zukünfte vorwegnehmen zu können, um daran das eigene Entscheiden und Handeln immer wieder neu auszurichten, wenn man ausgerechnet in der Krise auf Demagogen, Hitzköpfe oder auf die Manipulationen von Geheimdiensten, Propaganda und Gesinnungswächtern hereinfällt?

    Ich bin von Herzen dagegen, daß ich aus Vernunftgründen dafür sein muß, diesen Fehdehandschuh aufzuheben. Aus Einsicht in die Notwendigkeit bin ich dafür, dieser Konfrontation, diesem Despotismus die Stirn zu bieten und das bedeutet: Es gilt, der Willkürherrschaft von Despoten und Kulissenschiebern endlich entgegenzutreten und dafür zu sorgen, daß deren Politik weltweit nicht mehr aufgeht. Die Zeiten, als im Absolutismus sich noch einzelne Herrscher selbst zum Staat erklärten und ebendas auch so meinten, wenn sie “wir” sagten, waren ein aberwitziges Durchgangsstadium in der Neueren Geschichte, das endlich vorbei sein sollte.

    Es gibt nur einen Grund, die Verteidigung gegen diesen Krieg zu rechtfertigen, wenn es schlußendlich auf mehr Demokratie, mehr Humanität und weniger dunkle Machenschaften hinausläuft.  Es ist an der Zeit, dem ständige Zündeln der USA endlich Einhalt zu gebieten. Es scheint, als läge eines der Motive, die Welt andauernd mit neuen Konflikten zu überziehen auch darin, im eigenen Land von einem drohenden Bürgerkrieg abzulenken.  Man sorgt ständig für neue äußere Feinde, um den Haß im eigenen Land damit zu übertünchen.

    Was bei alledem überhaupt nicht geheuer sein kann, ließ sich bereits in der  Corona-Krise beobachten. Es war ein Rückfall in vormalige Zeiten, in ein längst überwunden geglaubtes Stadium der Entwicklung – aus Gründen der Angst und der Panikmache. Genau damit spielen Despoten immer wieder, aber auch Politiker in Demokratien auf der Grundlage von Staaten, die wie Monster im Zaum gehalten werden müssen.

    Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und die Balance of Power sind inzwischen unerläßlich geworden, es reicht aber noch immer nicht. Noch mehr Demokratie ist erforderlich, noch mehr Bildung, Entwicklung, Emanzipation. Also genau das Gegenteil dessen, was den Autokraten und den sich allenthalben bereichernden Oligarchen genehm ist. Sie sollen nicht mehr von dieser Welt sein, denn sie stammen aus dem letzten, eigentlich toten 19. Jahrhundert, das jetzt wie ein Zombie die Gemüter erschrickt. – Sich nicht einschüchtern zu lassen und nicht erpressbar zu sein, ist von größter Bedeutung. Auch und gerade Demokratien müssen wehrhaft sein, nur ganz anders, als es sich die Militaristen und Bellizisten wünschen.

    Ein Krieg im Namen der Demokratie ist nur dann legitim, wenn mehr Demokratie dabei herauskommt. Erst dann läßt sich auch das Herz gewinnen. Es ist ein Ausdruck der Würde, sich nicht einschüchtern, verängstigen und unterdrücken zu lassen. – Aber in Russland sind demokratische Erfahrungen noch gar nicht gemacht, sondern immer nur verhindert worden. Und die Demütigungen, die zuletzt vom Westen her gezielt adressiert wurden, taten ihr übriges, eben nicht den Weg der Humanität in die Zukunft, sondern den der Gewalt in die Vergangenheit zu wählen.

    Bei alledem sollte man den humanen Geist zu würdigen wissen, denn gerade der Umgang mit Gedemütigten ist ganz besonders heikel. In Krisen und Konflikten die Würde der Verlierer zu wahren und dafür verläßlich zu sorgen, daß sich gerade sie sich gewürdigt fühlen dürfen, können und auch sollen, das ist die höchste Kunst jeder Diplomatie. – Aber schon seit Jahren findet immer weniger Diplomatie statt, Demütigungen werden bewußt ausgesprochen, es wurde betont undiplomatisch provoziert, weil nicht der Frieden, sondern der Krieg gewählt worden ist, lange bevor Putin seinen Marschbefehl gab.

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    Man will den Esel strafen, schlägt aber den Sack

    Über Sexismus und Sprachkritik

    Es ist erklärungsbedürftig, was dieser, zugegeben nicht ganz tierliebe Spruch besagen soll. Deutlich wird, was gemeint ist, anhand der aktuellen Debatten über Sexismus.
    Tatsächlich läßt sich ein nicht unwesentlicher Teil des Sexismus anthropologisch auf animalische Anteile zurückführen, die wir noch immer in uns tragen. Menschen sind herausgefallen aus ihrer vormaligen Tier-Natur im Paradies, es ist unser Schicksal, nie wieder “ganz” zu werden. – Rilke sagt über den Menschen,

     

    “und die findigen Tiere merken es schon,
    daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind
    in der gedeuteten Welt.” (Rainer Maria Rilke:  Duineser Elegien.)


     
    Das ist der Preis dafür, Mensch geworden zu sein: Daher die vielen Widersprüche in und zwischen uns. Und davon ist der zwischen „Körper haben“ und „Leib sein“ nur einer von vielen. – Wir beobachten uns, oft nicht gerade freundlich gestimmt. Auch sind wir nicht entweder das eine oder das andere, sondern mal das eine, mal das andere und das zumeist nicht wirklich voll und ganz.
     
    Lucas Cranach der Ältere: Paradies (Ausschnitt) (1530).
    An der Sprache nun andauernd neue Exempel wegen Sexismus vorzunehmen, ist auch keine Lösung im Umgang mit alledem. Genau das besagt offenbar dieser Spruch: Der „Esel“ ist also der Sexismus, den manche bestrafen möchten, aber nicht können. Daher wird die Sprache, also der „Sack“ geschlagen.
     
    Viele dieser Hypothesen über Sprechen und Sprache haben den Tiefgang von Verschwörungstheorien. Sie geben sich viel zu schnell mit möglichst einfachen Erzählungen vom angeblich Bösen hinter den Kulissen zufrieden.
     
    Nichts gegen mehr sprachliche Sensibilität und mehr Differenzierungsvermögen. Nur das kann helfen. Aber das geht nicht auf dem Umweg über Sprechverbote, sondern nur auf dem Umweg über noch mehr, noch bessere Worte, noch mehr Nebensätze und nur durch tiefere Dialoge, in denen die Empathie immer mehr zur Einfühlung kommen kann.
     
    Durch neu errichtete Tabus werden aus Widersprüchen nur noch größere Probleme, weil auch diese Aspekte des Menschlichen ein Recht darauf haben, Gehör, Ausdruck und Verständnis zu finden. – Über die angemessene Form läßt sich allerdings trefflich streiten. Es war schon immer eine Frage der Kultur, zu „kultivieren“, was, wie zum Ausdruck gebracht werden kann und auch soll.
     
    Allerdings hat der alltägliche Sexismus auch biologische Grundlagen, die noch aus dem Tierreich stammen. Das kann jede Frau am eigenen Leib erfahren. Spätestens dann, wenn ab einem gewissen Alter die begehrlichen Blicke seltener werden.
     
    Und mir als Mann entlockt es ein Schmunzeln über meine eigene Tiernatur, wenn ich sehe, wie mein Blick „fremdgesteuert“ wird. Allein vom Klackern höherer Absätze geht ein unwiderstehlicher Reiz aus. Dabei ist den TrägerInnen der richtige Klackerton offenbar von Bedeutung. Wären die Pumps stumm, blieben sie in den Regalen. – Aber ich muß ja nun nicht die Steuerung aus der Hand geben. Natürlich kann Mann sich über die eigene Tiernatur hinwegsetzen.
     
    Auf “Sexuelle Bildung” kommt es an, der Weg dorthin ist aber anspruchsvoller als gedacht. Vor allem geht es darum, möglichst viele solcher Widersprüche in angemessene Worte zu kleiden. – Wir können Weine degustieren und winden Worte zu Girlanden des ereignisreichen Geschmacksgeschehens, aber über Orgasmen reden, über Erotik und über die Spannung dieser Widersprüche, das können wir nicht.
    Nicht weniger, sondern sehr viel mehr neue Worte sind die Lösung. Nicht neue Tabus, nicht die Einschränkung, sondern erst die Erweiterung des Ausdrucksvermögens ist “Bildung”. – Der Baum der Erkenntnis hat noch viele Früchte, die allesamt verkostet werden sollten. Das “Verbotene” an diesen Früchten besteht allerdings darin, daß es immer auch ein Wagnis ist, sich zu öffnen, um sich zu erklären und einander zu verstehen.
     
    Wichtig ist jedoch nicht nur Reden, entscheidend ist erst das Verstehen. – Nur, wo mindestens zwei Menschen beisammen sind und einander verstehen, nicht allgemein, sondern ganz konkret in einer ganz bestimmten, höchst heiklen Angelegenheit, dort ist auch der Geist unter ihnen, der die Sicherheit verschaffen kann, sich aufgehoben zu fühlen, für Momente des Glücks.
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    Nähe und Enge

    Wenn es eng wird ums Herz

    “Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müßte man sie weitersagen.” (Christa Wolf: Kassandra. Voraussetzungen einer Erzählung. Frankfurter Poetik–Vorlesungen; Darmstadt, Neuwied 1983. S. 76f.)

    Es gibt einen ethisch nicht zulässigen Tierversuch:  Zwei Ratten werden in einen Käfig gesperrt, der eine ziemlich klar definierte Größe unterschreitet.  Dann gehen sich beide augenblicklich an die Gurgel, bis nur noch eine übrig bleibt. 
     
    Auf mehrtägigen Veranstaltungen gibt es diesen magischen 3. Tag.  Auch da gehen sich Teilnehmer aus einem inneren Zwang heraus an, weil irgendeine Geduld am Ende ist und man vom vielen Weglächeln allmählich Gesichtskrämpfe bekommt. — Es ist auch komisch, wenn gleich ganz viele wie auf ein geheimes Kommando ziemlich unvermittelt und aufgrund von Nichtigkeiten plötzlich aufeinander losgehen.
     
    Wenn man als Referent später dazu kommt und wissen möchte, wie die Stimmung so ist, kann man sehr gut Teilnehmerinnen befragen.  Frauen haben es wie selbstverständlich auf dem Schirm, wer mit wem, warum nicht und weswegen.  — Ich bin da immer bass erstaunt, wie leicht frau Gruppendynamik durschauen kann, weil ich dazu mit Bordmitteln ziemlich lange brauche, bis ich es auch sehe.
     
    Jérôme-Martin Langlois: Cassandra fleht Minerva an, sich an Ajax zu rächen (1810).
    Es ist überaus wichtig, hinter die Kulissen zu schauen.  Das ist auch der Sinn von Höflichkeit, denn es gilt, anderen zuvorkommend zu begegnen, so daß sie gar nicht erst Beklemmungen bekommen, sondern sich wohlfühlen, verstanden, geachtet, gewürdigt.  — Das läßt sich sehr schön bei Knigge studieren, dem es mitnichten um den Einsatz des Fischmessers geht. 
     
    Tatsächlich ist Gesellschaft immer auch Theater.  Wir spielen unsere Rollen und dabei uns selbst und anderen etwas vor.  Aber was wäre die Alternative?  — Der Untertitel bei Knigge lautet, vom Umgang mit Menschen.  Dabei geht es um eine Diplomatie, die alles andere ist als Schmeichelei oder Manipulation.  Allerdings ist dazu ein wenig Lebensart und Lebenserfahrung erforderlich und vor allem ein humanistischer Geist. 
     
    Das Rollenspiel ist ja selbst wieder ein Medium, eine Sprache, mit der wir uns darstellen.  Das wird einem klar bei einer Empfehlung, die Knigge gibt:  Seinerzeit war die Bewegungsfreiheit nicht so wie heute. Nur Adelige und Handwerksgesellen durften und mußten reisen, um sich in der weiten Welt zu beweisen.  In der Tat lernt man sich selbst am besten in der Fremde kennen und vor allem dann, wie man mit dem Unbekannten umgehen muß. 
     
    Wenn man in der Stadt eine Kutsche gemietet hat und die Kutscher wie verrückt losfahren, sollte man sich keineswegs darüber beschweren.  Es geht nur um eine Belastungsprobe.  Wenn nämlich die Räder schwach sind, dann sollten sie hier und jetzt brechen – aber nicht im Wald, wo bekanntlich die Räuber sind.
     
    Die meisten Probleme entstehen durch nicht thematisiertes Mißverstehen. Es ist falsche Höflichkeit, irgendeine Form zu wahren, aber nicht auf das zu sprechen zu kommen, was wirklich von Bedeutung ist, um einander zu verstehen.  — Das ist voraussetzungsreicher als gedacht.  Zunächst müßte man erst einmal sich selbst verstehen und dann auch den Anderen. Dann braucht man eine gemeinsame Gesprächsgrundlage, wie es schon im Jargon der Diplomaten heißt.  Das alles verlangt der Sprache derart viel ab, so daß viele lieber alles weglächeln und Meta–Toleranz–Gepflogenheiten vor sich hertragen oder auch Parteinahmen, je nach Tagesbefehl, was
    noch mehr Probleme bereitet.
     
    Die Welt ist in der Tat abhängig vom Willen und von der Vorstellung, die man sich darüber macht oder auch nur machen läßt.  Das hat die Corona-Krise leidlich unter Beweis gestellt.  Die Grenzen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft, wurden ständig verletzt.  Man hat sich in eine Stimmung aus Panik, Furcht und Bedrohung versetzen und dauerhaft halten lassen.
     
    Und jetzt erscheint es so, als wäre Corona nur eine Art Vorkrieg gewesen.  Die Polarisierung der Gesellschaft, der Kultur, mancher Gemeinschaften und das Gefühl, im Anderen eine infektiöse Bedrohung zu sehen und Nähe generell fürchten zu müssen, sich auf nichts mehr verlassen zu können, schon gar nicht auf das eigene Immunsystem, das hat alles sehr viel mehr Schaden angerichtet, als manche bereit wären, sich zuzugestehen.
     
    Auch ist es kein Zufall, daß nunmehr mit möglichst großer Öffentlichkeit dieses toxische Männlichkeitsgehabe wieder fröhliche Urstände feiert.  — Wie war es noch, als Deutsche in den Krieg fuhren? Das taten sie ja nur, um dort mit ihrer neuen, französischen Geliebten auf der Chaussee de Elysee flanieren zu gehen.  Zurück kamen sie, wenn überhaupt, zutiefst traumatisiert.
     
    Die Weltkriege haben diese Schattenfiguren des prekären Maskulinismus erzeugt, einen manisch-depressiven Männertyp, der nicht sprechen kann über die Scheußlichkeiten, die nicht wieder verschwinden wollen.  Also liegt er den ganzen Tag auf der Couch, bekommt aber einmal am Tag seinen Anfall, die ganze Familie zu vermöbeln.
     
    Das gegenwärtige, affenhafte Brustklopfen der Machomanie ist ja nur das, was im Vorkrieg demonstriert wird.  Später wird sich die Gesellschaft in großer Dankbarkeit für die erbrachten Opfer von diesen Helden nur noch angewidert abwenden.  Also was soll das?
     
    Es ist kein Kunststück, gegen den Krieg zu sein, gegen jeden, weil das einfach für nichts gut ist.  Außerdem befand man sich schon immer in der besseren Gesellschaft mit denen, die sich ein eigenes Urteilsvermögen zutrauen und auch zumuten mochten.  — Zwischen der Zustimmung zur Impfung und der Zustimmung zum Krieg gibt es eine gespenstische Gemeinsamkeit.
     
    I am not convinced.  — Wo kommt nur das Bedürfnis nach Haß her?  Ist es nicht eine viel zu späte Reaktion darauf, daß man sich wieder einmal hat viel zu viel Duldsamkeit abverlangt, zu viel Nähe zugemutet und zu wenig Verstehen aufgebracht hat?  Warum wehren sich so wenige gegen Übergriffe und lächeln sich weg?  Warum kommt es dazu, daß man irgendwann einfach platzt, wenn es bereits zu spät ist? Das ist falsche Höflichkeit, das ist Feigheit, Unbedarftheit, Unselbstständigkeit, Unsicherheit, Unmündigkeit.
     
    Warum haben so viele die Gelegenheit zum Bashing nicht verstreichen lassen, um auch mal ganz kräftig auszuteilen?  — Die Gründe liegen woanders, in einem allgemeinen Unglücklichsein, das mit dem eigentlichen Anlaß kaum etwas zu tun hat. 
     
    In einem Mangel an Denken und Sprache liegen die eigentlichen Gründe.  Daher laufen die Konflikte völlig aus dem Ruder nach dem Motto:  Und was ich Dir überhaupt immer schon mal sagen wollte…! — Machtworte sind Verlautbarungen einer Ohnmacht, aus Gründen der Sprache, des Denkens und aus Mangel an Geist.
     
    Als Ethologen einem Volk ohne Fernseher vom Weltkrieg erzählten, haben sich diese zunächst köstlich amüsiert.  So etwas bräuchten sie auch mal. Offenbar dachten sie an eine zünftige Wirtshausschlägerei, die sie auch noch nicht kannten.  — In einem Science Fiction las ich mal über eine fremde Spezies, sie seien ursprünglich sehr kriegerisch gewesen, dann aber hätten sie sich selbst immer weiter pazifiziert.  Aber von Zeit zu Zeit bräuchten sie noch eine Drangwäsche, ein bemerkenswertes Wort für das, was da gerade vor sich geht.
     
    Es ist vielen zu eng geworden.  Es wäre aber besser, einander mehr Raum zu gewähren.  Raum gewähren kann man auch durch mehr Verständnis, etwa für die, die sich gerade völlig verunsichert in den Geschäften bewegen, daß jetzt keine Maskenpflicht mehr herrscht.  Aber wo kommen wir da jetzt hin, wenn jeder wieder macht was er oder sie will!  – Genau das ist das Problem, dieses unausgesprochene Mißtrauen, der verborgene Selbst– und Menschenhaß.
     
    Der Liberalismus steht einer rechtskatholische Tiefengesinnung gegenüber und einer Reihe von selbstüberzeugten Besserwissern, die in sich das Potential zum guten Diktator verspüren.  Nicht nur Krieg, sondern auch Diktatur scheint wieder machbar.
     
    Aber der Liberalismus hat den Humanismus auf seiner Seite.  Er kann sagen, warum wir uns in unserer Freiheit selbst finden und entwickeln müssen.  Nur so wird aus Menschen das, was sich aus ihrer Emanzipationsgeschichte längst herauslesen läßt, Wesen individueller Weisheit, Selbstverantwortung, Empathie, Authentizität und einem immens gestiegenen Verbalisierungsvermögen.
     
    Erst wenn wir sagen können, was mit uns und der Welt nicht stimmt, wenn wir auch in der Bewegtheit noch die Contenance bewahren können, um uns gleichwohl nicht unterbuttern zu lassen, erst dann sind wir auf dem richtigen Weg. — Dabei ist die Bezeichnung Homo sapiens bislang nur eine Anmaßung.
     
    Die letzte aller Kompetenzen ist die schwerste von allen, das ist in jeder Entwicklung so. Sich selbst moderieren zu können, freundschaftlich, verständnisvoll und hoffnungsvoll, das ist einzig das, was zählt. Der Staat hat überhaupt nicht das Recht, sich da einzumischen. Er hat nicht die Aufgabe, über die Gesellschaft zu herrschen, er hat ihr zu dienen, um sie darin zu unterstützen, zu sich selbst zu kommen. — In Pädagogik und Psychologie ist das der state of the art, alle Eltern wissen das.
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    Der Staat als Monster

    Entscheidend, ob er der Gesellschaft dient oder über sie herrscht

    Alles  was uns wertvoll erscheint, ist es immer nur in Hinsicht auf einen äußeren Zweck. Aber Menschen tragen ihren Zweck in sich selbst und verfügen über Freiheit und Autonomie, um sich selbst Zwecke zu setzen. In diesem Selbstzweck und im Recht auf Selbstbestimmung liegt die Würde des Menschen. — Mit diesem Beweis gelingt Immanuel Kant in der Metaphysik der Sitten die Begründung einer Ethik der Menschenwürde, die nicht mehr auf die Theologie der Ebenbildlichkeit angewiesen ist.

    Frontispiz von Hobbes’ Leviathan.

    Aber Staaten haben sich aus vielerlei Gründen immer wieder an der Selbstzwecksetzung und an der Freiheit und Autonomie von Menschen und ganzen Gesellschaften systematisch vergriffen. — Dabei wurden und wird vielen die Emanzipation vorenthalten oder auch ganz vereitelt.

    Nicht selten erzeugen Staaten gezielt gewünschte Verhältnisse, so wie sie ihren Interessen zuträglich sind. — Das geschieht aus beliebigen anderweitigen Interessen, die nicht im Dienste der Humanität stehen, bei denen es ums Haben geht, aber nicht um Sein; um Macht, aber nicht um Geist.

    Die im Prozeß der Zivilisation entstandenen Staaten vergötzen sich selbst. Sie neigen dazu, die anvertrauten Gesellschaften bei Gelegenheit für die eigenen Zwecke zu mißbrauchen, mitunter im Ungeist einer zynischen Menschenverachtung, die einem jeden Humanismus spottet. — Der Staat ist ein Monster, daher ist es entscheidend, ob er der Gesellschaft dient oder über sie herrscht; ob er in seiner titanischen Macht beherrscht und kontrolliert wird oder selbst herrscht.

    Staaten sind eher an Untertanen interessiert. Sollten sie nicht ausnahmsweise dem Geist des Humanismus verpflichtet sein, so halten sie nach Möglichkeit ›ihre‹ Gesellschaft ganz bewußt klein und führen sie bei Gelegenheit auch hinters Licht, — Noch immer muß dazu das Ammenmärchen herhalten, ›der‹ Mensch sei als solcher gar nicht in der Lage, sich selbst zu führen und könne gar nicht ohne Vormundschaft, von sich aus das Richtige einsehen und auch tun können.

    Ein weiteres Ammenmärchen ist die Rede vom ›guten Hirten‹, auf dessen Führung ›seine‹ Schafe angeblich angewiesen sind. Die Freiheit, die Autonomie und der Selbstzweck des Menschen, das macht dieses alte Narrativ eigentlich obsolet. Noch immer herrscht ein Menschenbild der Menschenverachtung vor. — Es ist an der Zeit, mit der Emanzipation der Gesellschaft und der Höherentwicklung der politischen Kultur durch das Projekt der Direkten Demokratie endlich zu beginnen.

     

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    EPG II b (online und Block)

    Oberseminar

    EPG II b (Online)

    Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

    SS 2022 | Beginn: 30. Juni 2022 | Ende: 14. August 2022 | Online und Block
    Ab 30. Juni 2022: 5 Seminare online | donnerstags: 14:00–15:30 Uhr, sowie
    3 Workshops im Block: 12., 13., 14. August 2022 | 14–19 Uhr | Raum: 30.91-110

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    Universe333: YogaBeyond Honza & Claudine Bondi; Beach, Australia 2013. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.

    Zwischen den Stühlen

    Eine Rolle zu übernehmen bedeutet, sie nicht nur zu spielen, sondern zu sein. Wer den Lehrerberuf ergreift, steht gewissermaßen zwischen vielen Stühlen, einerseits werden höchste Erwartungen gehegt, andererseits gefällt sich die Gesellschaft in abfälligen Reden. — Das mag damit zusammenhängen, daß jede(r) von uns eine mehr oder minder glückliche, gelungene, vielleicht aber eben auch traumatisierende Schulerfahrung hinter sich gebracht hat.

    Es sind viele potentielle Konfliktfelder, die aufkommen können im beruflichen Alltag von Lehrern. Daß es dabei Ermessenspielräume, Handlungsalternativen und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eigenen Ideale mit ins Spiel zu bringen, soll in diesem Seminar nicht nur thematisiert, sondern erfahrbar gemacht werden.

    Das Selbstverständnis und die Professionalität sind gerade bei Lehrern ganz entscheidend dafür, ob die vielen unterschiedlichen und mitunter paradoxen Anforderungen erfolgreich gemeistert werden: Es gilt, bei Schülern Interesse zu wecken, aber deren Leistungen auch zu bewerten. Dabei spielen immer wieder psychologische, soziale und pädagogische Aspekte mit hinein, etwa wenn man nur an Sexualität und Pubertät denkt. — Mitunter ist es besser, wenn möglich, lieber Projekt–Unterricht anzuregen, wenn kaum mehr was geht.

    Es gibt klassische Konfliktlinien, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht selten die eigenen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hineinspielen. Aber auch interkulturelle Konflikte können aufkommen. Das alles macht nebenher auch Kompetenzen in der Mediation erforderlich. — Einerseits wird individuelle Förderung, Engagement, ja sogar Empathie erwartet, andererseits muß und soll gerecht bewertet werden. Das alles spielt sich ab vor dem Hintergrund, daß dabei Lebenschancen zugeteilt werden.

    Gerade in letzter Zeit sind gestiegene Anforderungen bei Inklusion und Integration hinzugekommen. Auch Straf– und Disziplinarmaßnahmen zählen zu den nicht eben einfachen Aufgaben, die allerdings wahrgenommen werden müssen. — Ein weiterer, immer wieder akuter und fordernder Bereich ist das Mobbing, das sich gut ›durchspielen‹ läßt anhand von Inszenierungen.

    Es gibt nicht das einzig richtige professionelle Verhalten, sondern viele verschiedene Beweggründe, die sich erörtern lassen, was denn nun in einem konkreten Fall möglich, angemessen oder aber kontraproduktiv sein könnte. Pädagogik kann viel aber nicht alles. Bei manchen Problemen sind andere Disziplinen sehr viel erfahrener und auch zuständig. — Unangebrachtes Engagement kann selbst zum Problem werden.

    Wichtig ist ein professionelles Selbstverständnis, wichtig ist es, die eigenen Grenzen zu kennen, und mitunter auch einfach mehr Langmut an den Tag zu legen. Zudem werden die Klassen immer heterogener, so daß der klassische Unterricht immer seltener wird. — Inklusion, Integration oder eben Multikulturalität gehören inzwischen zum Alltag, machen aber Schule, Unterricht und Lehrersein nicht eben einfacher.

    Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit setzen zwar hohe Erwartungen in Schule und Lehrer, gefallen sich aber zugleich darin, den ganzen Berufstand immer wieder in ein unvorteilhaftes Licht zu rücken. — Unvergessen bleibt die Bemerkung des ehemaligen Kanzlers Gehard Schröder, der ganz generell die Lehrer als faule Säcke bezeichnet hat.

    „Ihr wißt doch ganz genau, was das für faule Säcke sind.“

    Dieses Bashing hat allerdings Hintergründe, die eben darin liegen dürften, daß viel zu viele Schüler*innen ganz offenbar keine guten Schulerfahrungen gemacht haben, wenn sie später als Eltern ihrer Kinder wieder die Schule aufsuchen.

    Ausbildung oder Bildung?

    Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grundlagenstudium (EPG) obligatorischer Bestandteil des Lehramtsstudiums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modulen, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünftige LehrerInnen für wissenschafts– und berufsethische Fragen zu sensibilisieren und sie dazu zu befähigen, solche Fragen selbständig behandeln zu können. Thematisiert werden diese Fragen im Modul EPG II.

    Um in allen diesen Konfliktfeldern nicht nur zu bestehen, sondern tatsächlich angemessen, problembewußt und mehr oder minder geschickt zu agieren, braucht es zunächst einmal die Gewißheit, daß immer auch Ermessens– und Gestaltungsspielräume zur Verfügung stehen. Im Hintergrund stehen Ideale wie Bildung, Entfaltung der Persönlichkeit, die Erfahrung erfüllender Arbeit und Erziehungsziele, die einer humanistischen Pädagogik entsprechen, bei der es eigentlich darauf ankäme, die Schüler besser gegen eine Gesellschaft in Schutz zu nehmen, die immer fordernder auftritt. In diesem Sinne steht auch nicht einfach nur Ausbildung, sondern eben Bildung auf dem Programm.

    Auf ein– und dasselbe Problem läßt sich unterschiedlich reagieren, je nach persönlicher Einschätzung lassen sich verschiedene Lösungsansätze vertreten. Es ist daher hilfreich, möglichst viele verschiedene Stellungnahmen, Maßnahmen und Verhaltensweisen systematisch durchzuspielen und zu erörtern. Dann läßt sich besser einschätzen, welche davon den pädagogischen Idealen noch am ehesten gerecht werden.

    So entsteht allmählich das Bewußtsein, nicht einfach nur agieren und reagieren zu müssen, sondern bewußt gestalten zu können. Nichts ist hilfreicher als die nötige Zuversicht, in diesen doch sehr anspruchsvollen Beruf nicht nur mit Selbstvertrauen einzutreten, sondern auch zuversichtlich bleiben zu können. Dabei ist es ganz besonders wichtig, die Grenzen der eigenen Rolle nicht nur zu sehen, sondern auch zu wahren.

    Stichworte für Themen

    #„ADHS“ #Aufmerksamkeit #Bewertung in der Schule #Cybermobbing #Digitalisierung #Disziplinarmaßnahmen #Elterngespräche #Erziehung und Bildung #Genderdiversity #Heldenreise und Persönlichkeit in der Schule #Inklusion #Interesse–Lernen–Leistung #Interkulturelle Inklusion #Islamismus #Konflikte mit dem Islam in der Schule #Konfliktintervention durch Lehrpersonen #LehrerIn sein #Lehrergesundheit #Medieneinsatz #Medienkompetenz #Mitbestimmung in der Schule #Mobbing #Online-Unterricht #Political Correctness #Professionelles Selbstverständnis #Projektunterricht #Pubertät #Referendariat #Respekt #Schule und Universität #Schulfahrten #Schulverweigerung #Sexualität und Schule #Strafen und Disziplinarmaßnahmen #Ziviler Ungehorsam

    Studienleistung

    Eine regelmäßige und aktive Teilnahme am Diskurs ist wesentlich für das Seminargeschehen und daher obligatorisch. — Studienleistung: Gruppenarbeit, Präsentation und Hausarbeit.

  • Anthropologie,  Diskurs,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Lehramt,  Lehre,  Moderne,  Moral,  Politik,  Professionalität,  Psyche,  Religion,  Schule,  Seele,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Wahrheit,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    EPG II a (online)

    Oberseminar

    EPG II a

    Ethisch–Philosophisches Grundlagenstudium II

    SS 2022 | freitags | 14:00-15:30 Uhr | online 

    Beginn: 22. April 2022 | Ende: 29. Juli 2022

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    Universe333: YogaBeyond Honza & Claudine Bondi; Beach, Australia 2013. — Quelle: Public Domain via Wikimedia Commons.

    Zwischen den Stühlen

    Eine Rolle zu übernehmen bedeutet, sie nicht nur zu spielen, sondern zu sein. Wer den Lehrerberuf ergreift, steht gewissermaßen zwischen vielen Stühlen, einerseits werden höchste Erwartungen gehegt, andererseits gefällt sich die Gesellschaft in abfälligen Reden. — Das mag damit zusammenhängen, daß jede(r) von uns eine mehr oder minder glückliche, gelungene, vielleicht aber eben auch traumatisierende Schulerfahrung hinter sich gebracht hat.

    Es sind viele potentielle Konfliktfelder, die aufkommen können im beruflichen Alltag von Lehrern. Daß es dabei Ermessenspielräume, Handlungsalternativen und vor allem auch Raum gibt, sich selbst und die eigenen Ideale mit ins Spiel zu bringen, soll in diesem Seminar nicht nur thematisiert, sondern erfahrbar gemacht werden.

    Das Selbstverständnis und die Professionalität sind gerade bei Lehrern ganz entscheidend dafür, ob die vielen unterschiedlichen und mitunter paradoxen Anforderungen erfolgreich gemeistert werden: Es gilt, bei Schülern Interesse zu wecken, aber deren Leistungen auch zu bewerten. Dabei spielen immer wieder psychologische, soziale und pädagogische Aspekte mit hinein, etwa wenn man nur an Sexualität und Pubertät denkt. — Mitunter ist es besser, wenn möglich, lieber Projekt–Unterricht anzuregen, wenn kaum mehr was geht.

    Es gibt klassische Konfliktlinien, etwa Eltern–Lehrer–Gespräche, in denen nicht selten die eigenen, oft nicht eben guten Schul–Erfahrungen der Eltern mit hineinspielen. Aber auch interkulturelle Konflikte können aufkommen. Das alles macht nebenher auch Kompetenzen in der Mediation erforderlich. — Einerseits wird individuelle Förderung, Engagement, ja sogar Empathie erwartet, andererseits muß und soll gerecht bewertet werden. Das alles spielt sich ab vor dem Hintergrund, daß dabei Lebenschancen zugeteilt werden.

    Gerade in letzter Zeit sind gestiegene Anforderungen bei Inklusion und Integration hinzugekommen. Auch Straf– und Disziplinarmaßnahmen zählen zu den nicht eben einfachen Aufgaben, die allerdings wahrgenommen werden müssen. — Ein weiterer, immer wieder akuter und fordernder Bereich ist das Mobbing, das sich gut ›durchspielen‹ läßt anhand von Inszenierungen.

    Es gibt nicht das einzig richtige professionelle Verhalten, sondern viele verschiedene Beweggründe, die sich erörtern lassen, was denn nun in einem konkreten Fall möglich, angemessen oder aber kontraproduktiv sein könnte. Pädagogik kann viel aber nicht alles. Bei manchen Problemen sind andere Disziplinen sehr viel erfahrener und auch zuständig. — Unangebrachtes Engagement kann selbst zum Problem werden.

    Wichtig ist ein professionelles Selbstverständnis, wichtig ist es, die eigenen Grenzen zu kennen, und mitunter auch einfach mehr Langmut an den Tag zu legen. Zudem werden die Klassen immer heterogener, so daß der klassische Unterricht immer seltener wird. — Inklusion, Integration oder eben Multikulturalität gehören inzwischen zum Alltag, machen aber Schule, Unterricht und Lehrersein nicht eben einfacher.

    Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit setzen zwar hohe Erwartungen in Schule und Lehrer, gefallen sich aber zugleich darin, den ganzen Berufstand immer wieder in ein unvorteilhaftes Licht zu rücken. — Unvergessen bleibt die Bemerkung des ehemaligen Kanzlers Gehard Schröder, der ganz generell die Lehrer als faule Säcke bezeichnet hat.

    „Ihr wißt doch ganz genau, was das für faule Säcke sind.“

    Dieses Bashing hat allerdings Hintergründe, die eben darin liegen dürften, daß viel zu viele Schüler*innen ganz offenbar keine guten Schulerfahrungen gemacht haben, wenn sie später als Eltern ihrer Kinder wieder die Schule aufsuchen.

    Ausbildung oder Bildung?

    Seit 2001 ist das Ethisch–Philosophische Grundlagenstudium (EPG) obligatorischer Bestandteil des Lehramtsstudiums in Baden–Württemberg. Es besteht aus zwei Modulen, EPG I und EPG II. — Ziel des EPG ist es, zukünftige LehrerInnen für wissenschafts– und berufsethische Fragen zu sensibilisieren und sie dazu zu befähigen, solche Fragen selbständig behandeln zu können. Thematisiert werden diese Fragen im Modul EPG II.

    Um in allen diesen Konfliktfeldern nicht nur zu bestehen, sondern tatsächlich angemessen, problembewußt und mehr oder minder geschickt zu agieren, braucht es zunächst einmal die Gewißheit, daß immer auch Ermessens– und Gestaltungsspielräume zur Verfügung stehen. Im Hintergrund stehen Ideale wie Bildung, Entfaltung der Persönlichkeit, die Erfahrung erfüllender Arbeit und Erziehungsziele, die einer humanistischen Pädagogik entsprechen, bei der es eigentlich darauf ankäme, die Schüler besser gegen eine Gesellschaft in Schutz zu nehmen, die immer fordernder auftritt. In diesem Sinne steht auch nicht einfach nur Ausbildung, sondern eben Bildung auf dem Programm.

    Auf ein– und dasselbe Problem läßt sich unterschiedlich reagieren, je nach persönlicher Einschätzung lassen sich verschiedene Lösungsansätze vertreten. Es ist daher hilfreich, möglichst viele verschiedene Stellungnahmen, Maßnahmen und Verhaltensweisen systematisch durchzuspielen und zu erörtern. Dann läßt sich besser einschätzen, welche davon den pädagogischen Idealen noch am ehesten gerecht werden.

    So entsteht allmählich das Bewußtsein, nicht einfach nur agieren und reagieren zu müssen, sondern bewußt gestalten zu können. Nichts ist hilfreicher als die nötige Zuversicht, in diesen doch sehr anspruchsvollen Beruf nicht nur mit Selbstvertrauen einzutreten, sondern auch zuversichtlich bleiben zu können. Dabei ist es ganz besonders wichtig, die Grenzen der eigenen Rolle nicht nur zu sehen, sondern auch zu wahren.

    Stichworte für Themen

    #„ADHS“ #Aufmerksamkeit #Bewertung in der Schule #Cybermobbing #Digitalisierung #Disziplinarmaßnahmen #Elterngespräche #Erziehung und Bildung #Genderdiversity #Heldenreise und Persönlichkeit in der Schule #Inklusion #Interesse–Lernen–Leistung #Interkulturelle Inklusion #Islamismus #Konflikte mit dem Islam in der Schule #Konfliktintervention durch Lehrpersonen #LehrerIn sein #Lehrergesundheit #Medieneinsatz #Medienkompetenz #Mitbestimmung in der Schule #Mobbing #Online-Unterricht #Political Correctness #Professionelles Selbstverständnis #Projektunterricht #Pubertät #Referendariat #Respekt #Schule und Universität #Schulfahrten #Schulverweigerung #Sexualität und Schule #Strafen und Disziplinarmaßnahmen #Ziviler Ungehorsam

    Studienleistung

    Eine regelmäßige und aktive Teilnahme am Diskurs ist wesentlich für das Seminargeschehen und daher obligatorisch. — Studienleistung: Gruppenarbeit, Präsentation und Hausarbeit.

  • Anthropologie,  Diskurs,  Ethik,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Kunst,  Künstler,  Melancholie,  Moderne,  Moral,  Motive der Mythen,  Platon,  Politik,  Psyche,  Psychosophie,  Religion,  Seele,  Theographien,  Theorien der Kultur,  Urbanisierung der Seele,  Utopie,  Wahrheit,  Wissenschaftlichkeit,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Schuld: Eine mächtige Kategorie

    Johann Heinrich Füssli: Lady Macbeth, schlafwandelnd, (um 1783). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Gewissensbisse, die zum Wahnsinn führen

    Der Dichter und Maler Johann Heinrich Füssli war derart fasziniert von den Werken des William Shakespeare, so daß er sich schon in jungen Jahren an Übersetzungen versuchte. — Als Maler schuf er einen ganzen Bilder–Zyklus mit berühmten Szenen, in denen die phantastische Stimmung eingefangen ist.

    So inszenierte er auch die dramatische Szene: Lady Macbeth V,1 von William Shakespeare. Die tragische Heldin wird von Alpträumen geplagt und findet einfach keine Ruhe mehr. Sie träumt mit offenen Augen und beginnt zu schlafwandeln. — Und es scheint, als wollte sie sämtliche Plagegeister vertreiben, die Zeugen ihrer Untaten, von denen sie verfolgt und um den Schlaf gebracht wird.

    Die Szenerie führt das schlechte Gewissen der Lady Macbeth vor Augen. — Ihr Mann war zunächst dem König treuergeben. Aber drei Hexen prophezeien ihm, selbst zum König zu werden. Um dem verheißenen Schicksal nun aufzuhelfen, schrecken Macbeth und seine Lady selbst vor einem heimtückischen Königsmord nicht zurück.

    Beide sind von blindem Ehrgeiz getrieben und verlieren im Verlauf der Ereignisse aufgrund ihrer Verbrechen zuerst ihre Menschlichkeit, dann ihr Glück und schließlich auch noch den Verstand, von ihrem Seelenheil ganz zu schweigen. — Dabei wirkt die Frau skrupelloser als der Mann. Ähnlich wie auch die Medea, setzt eine sehr viel entschiedenere Frau wirklich alles aufs Spiel, während der Mann eher zaghaft erscheint. Dahinter dürfte die Problematik stehen, daß Frauen lange Zeit nicht direkt aufsteigen konnten, nur über ihre Rolle als Ehefrau und Mutter.

    Es kommt im fünften Akt zu der im Bild von Füssli dargestellten Szene. Während sich Macbeth auf Burg Dunsinane mehr und mehr zum verbitterten, unglücklichen Tyrannen wandelt, wird Lady Macbeth immer heftiger von Gewissensbissen geplagt, denn die Schuld am Mord von King Duncan ist ungesühnt. — Alpträume kommen auf, sie beginnt im Schlaf zu wandeln und die Phantasie nimmt Überhand, bis sie schließlich den Verstand verliert und sich das Leben nimmt.

    Das Gefühl, sich womöglich gleich am ganzen Kosmos versündigt zu haben, durch eine Freveltat, dürfte sehr früh aufgekommen sein. Es gibt viele Beispiele dafür, daß durch ein Sakrileg eine ›heilige Ordnung‹ gestört wird, was nicht so bleiben kann. — Beispiele sind Sisyphos, ein Trickster, der nicht sterben will und den Tod immer wieder hinters Licht führt, oder Ixion, der erstmals einen Mord an einem Verwandten beging.

    Es gibt eine Klasse von Mythen, die sich als Urzeitmythen klassifizieren lassen. Väter verschlingen ihre Kinder, die Welt bleibt im Chaos, sie gewinnt gar keine Gestalt. Titanen herrschen, wobei der Eindruck entsteht, als wären sie die Verkörperung jener Geister, mit denen die Schamanen der Vorzeit noch umgehen konnten. — Die klassischen Mythen sind insofern auch ein Spiegel der Zivilisation, weil sie die angeblich barbarischen Zeiten zuvor als absolut brutal in Szene setzen.

    Erynnien, Furien, Rachegötter und Plagegeister

    Francisco de Goya: Saturn verschlingt seinen Sohn (1820f). — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Das sind auch Ammenmärchen der Zivilisation, die Rede ist dann von finsteren Zeiten. Zugleich setzen sich Mythen damit als Aufklärung in Szene, schließlich künden sie von der Überwindung dieser Schrecklichkeiten. Nicht nur der technische, zivilisatorische Fortschritt spielt bei alledem eine beträchtliche Rolle, sondern auch die Psychogenese. — Vermutlich kommt Individualismus erst allmählich auf, ebenso wie das Bedürfnis, sich selbst zu beobachten.

    Die klassischen Mythen inszenieren nicht nur das Sakrileg, sie errichten zugleich auch die Tabus dagegen, indem man die Ereignisse in eine viel frühere Urzeit abschiebt und zugleich demonstriert, wie entsetzlich die Folgen möglicher Tabubrüche tatsächlich sind.

    Wenn etwas Ungeheuerliches geschehen ist, dann treten bald schon Ungeheuer auf den Plan. Als würde die Welt selbst darum ringen, in den Zustand der ›vormaligen Harmonie‹ wieder zurückzukehren. — Aber irgendwie muß das Vergehen gesühnt werden. Es muß erst wieder aus der Welt geschafft werden durch Buße, weil erst dann die ›heilige Ordnung‹ wieder hergestellt werden kann.

    Zugleich sind die Götter selbst im Prozeß der Theogenese. Eine Götterdynastie folgt auf die nächste. — Interessant sind die Reflektionen darüber. So hat Kronos durch fortgesetzte Kindstötung der Gaia vorenthalten, was Mütter wollen, die Kinder aufwachsen sehen.

    Der Mythos schildert in dieser Vorstufe einen Zustand, in dem nicht wirklich Entwicklung statthaben konnte. — Erst in der Ära von Zeus wird die Welt auf die Menschheit zentriert. Dann treten die glücklichen Götter Athens sogar freiwillig zurück, um im Zuge des Prometheus–Projektes der Menschheit die Welt zu überlassen.

    Die Entstehung des Gewissens

    François Chifflart: Das Gewissen. 1877, Maisons de Victor Hugo, Paris. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

    Es ist vermutlich der aus Ägypten durch den Tempelpriester Moses beim Auszug der Juden mit auf den Exodus genommene monotheistische Gott, der bereits bei den Ägyptern mit einem allsehenden Auge symbolisiert wurde. Auch die Idee vom Jenseitsgericht stammt aus Ägypten, was zur bemerkenswerten Tradition der Ägyptischen Totenbücher geführt hat, das Leben als Vorbereitung auf den Tod zu betrachten.

     

    Mit der Bedrohung durch das Jüngste Gericht des Lebens kommt eine Psychogenese in Gang, die eine systematische Selbstbeobachtung erforderlich macht. — Wenn ein allgegenwärtiger und allwissender Gott ohnehin alles ›sieht‹, so daß man ihm nichts verbergen kann, dann scheint es angeraten zu sein, sich ein Gewissen zuzulegen, um sich genau zu beobachten und ggf. zu kontrollieren.

    Dementsprechend ist Kain auf der Flucht vor dem ›allsehenden Auge‹, weil er ›vergessen‹ hat, sich beizeiten ein Gewissen zu ›machen‹. — Das ist aber nur eine, noch dazu weniger anspruchsvolle Deutung des vermeintlichen Brudermords. Aus Gründen der Ethnologie können Ackerbauern und Hirten keine ›Brüder‹ sein. Offenbar hat sich der hier verehrte Gott, der das Opfer des Bauern ›ablehnt‹, noch nicht damit arrangiert, daß die Tieropfer seltener und die Opfer von Getreide und Früchten zunehmen werden.

    Kain auf der Flucht

    Erst mit der Urbanisierung erhält der Prozeß der Zivilisation seine entscheidende Dynamik. Der alles entscheidende Impuls geht mit dieser Gottesidee einher, mit der ganz allmählich aufkommenden Vorstellung eines Gottes, der alles ›sieht‹. — Dementsprechend illustriert Fernand Cormon die Flucht des Kain unmittelbar nach der Tat. Das Werk ist durch Victor Hugo inspiriert und schildert die Szene auf groteske Weise.

    Der Plot selbst ist zutiefst paradox: Kain ist Bauer. Er lebt von den Früchten der Erde, fürchtet sich jedoch schrecklich vor dem neuen transzendenten Gott, der im Himmel über den Wolken schwebt und der alles ›sieht‹. — Er verliert im Opferwettstreit, erschlägt seinen Kontrahenten, ist aber von diesem missionarischen Hirten offenbar längst bekehrt worden, denn er fürchtet sich fortan wie wahnsinnig vor diesem Gott. Darauf beginnt er eine halsbrecherische Flucht, um sich dem allsehenden, allwissenden, allgegenwärtigen Auge dieses Gottes doch noch zu entziehen.

    Fernand Cormon: Kain. 1880, Musèe d’Orsay, Paris. — Quelle: Public Domain via Wikimedia.

     

     

     

     

     

     

     

     

     

  • Anthropologie,  Diskurs,  Ethik,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Kunst,  Moderne,  Platon,  Psyche,  Religion,  Seele,  Utopie,  Wahrheit,  Wissenschaftlichkeit,  Zivilisation

    Psyche und Seele

    Über Unterschiede, die wieder das Ganze in den Blick nehmen

    Man glaubt, die Naturwissenschaften an die Stelle der Kirche setzen zu können und “alles” ist gut. Wissenschaft kann aber Religion gar nicht ersetzen. Außerdem gehörten dann auch die Geisteswissenschaften dazu.

    Da man dann aber selbst denken und sich bilden müßte, bleibt man lieber auf der “sicheren” Seite, bei “den” Fakten und verpaßt letztlich alles, was Wert wäre, gelebt, empfunden, gefeiert, geliebt und sogar geheiligt zu werden.

    Die Naturwissenschaften haben die Welt nur entzaubert und eine leere Welt geschaffen, in der dann ein nihilistischer Naturalismus die Leute erschreckt. Wichtig wäre, daß Naturwissenschaftler nicht über Sachen reden, für die sie nicht zuständig sind. – Wie Juri Gagarin, der erste Kosmonaut, der getreu seiner Partei verlautbaren ließ. Er wäre nach ein paar Erdumrundungen nun schon ziemlich weit im Kosmos herumgekommen, Gott habe er jedoch nicht gesehen. – Heilige Einfalt!

    Es gibt nicht nur Materie, sondern auch Geist, und wie man sieht, auch die Disziplin der Geistlosigkeit. – Es gibt nicht nur naturwissenschaftliche Fakten, sondern auch Narrative. Das ist übrigens das, was in anderen Kulturen als der “Geist der Ahnen” bezeichnet wird. Es sind die Narrative, in denen dieser “Geist” aufbewahrt wird, so daß man ihn jederzeit zu Rate ziehen kann, in den alten Geschichten.

    Es gibt nicht nur Körper und Psyche, sondern auch Leib und Seele. Und dann gibt es auch noch den Geist.

    Vor allem der Unterschied zwischen Psyche und Seele hat es mir in letzter Zeit angetan. Um die Corona-Krise überhaupt noch verstehen zu können, habe ich gute alte Begriffe wieder reaktiviert, so daß ich sie nun aktiv verwende. Es sind die Begriffe “Leib, Seele” und “Geist”.

    Ich vermute nämlich, daß die Psyche wohl eher ein Teil unseres Maskenspiel ist. Sie ist also nicht so authentisch, wie wir glauben.

    Die Psyche ist eher wie das “schlechte Pferd” in Platons Seelenwagen. – Wenn diese Hypothese stimmt, dann wäre die Psyche ein Teil der “Maske”, wie wir sie tragen, um uns selbst und anderen etwas vorzumachen.

    Während die Psyche viel Wert legt auf Äußerlichkeiten, ob die Inszenierung stimmt und den Vorbildern aus maßgeblichen Filmszenen “gerecht” werden kann. Legt die Seele, wenn man wiederum Platon folgt, großen Wert auf das, was der Psyche oft nur nachgesagt wird, echte Gefühle, wirkliche Verbundenheit, wahre Authentizität, tiefes Verstehen.

    Das ist alles nicht schlimm sondern völlig in Ordnung: Wir brauchen alles, Mechanik, Materie, Naturwissenschaften, Fakten, Narrative, Psyche, Seele und Geist. – Man sollte nur eben immer auch wenigstens ahnen, worauf es jeweils ankommen könnte, auf welcher Ebene ein Phänomen angesprochen werden muß.

    Wenn man in diesen Angelegenheiten etwas besser unterscheiden möchte, dann empfehle ich Platon. – Es ist berückend, wenn er im “Phaidros” erklärt, was mit der Seele ist.

    Das wird einmal veranschaulicht durch einen Seelenwagen, der von zwei Pferden gezogen und von einem Wagenlenker geführten wird. Dabei wird die Bedeutung von Schönheit und Liebe für die Seele und deren Wiedergeburt zur Darstellung gebracht.

    Einmal in tausend Jahren brechen die Götter zum Triumphzug über das Firmament, über die Milchstraße, auf, um bis an die Grenzen dieser Welt vorzudringen, um im Jenseits vom Jenseits die Ideen zu schauen. Mit dabei sind auch Menschen, die aber Mühe und Not haben, gewisse, schwierige Himmelspassagen zu meistern, mit einem guten und einem schlechten Pferd. – Das ist der Plot.

    Ich habe schon oft darüber philosophiert, geschrieben und Vorträge gehalten, aber das Original ist eben Platon. – Es ist schön zu sehen, was er gesehen hat.

  • Anthropologie,  Diskurs,  Ethik,  Identität und Individualismus,  Moderne,  Moral,  Religion,  Urbanisierung der Seele,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Theodor Lessing und die Grenzen der Kritik

    Pierre Mignard: Clio (1689). Die Muse der Geschichtsschreibunng mit Griffel, Buch und Trompete. Keine der Musen dürfte es schwieriger haben, denn was sie sieht, ist derart himmelschreiend, so daß man den Eindruck bekommt, als wollte sie bedauern, als hätte sie ihren Blick zum Himmel gerichtet, weil sie um Vergebung bitten möchte.

    Über den Dreiklang der Zivilisation: Zivilisierung, Kolonisierung, Vernichtung.

    Von Gerhard Hauptmann wird berichtet, er habe zeitlebens an Schlaflosigkeit gelitten und die Wände um sein Bett in seinem Haus auf Hiddensee nächtens mit Inschriften versehen.  Es versteht sich, daß nur einige wenige dieser nur zum Teil lesbaren Sentenzen erhalten sind, eine davon lautet wie folgt:
     
     
    Kritik wertet meistens nur negative Leistung, nicht positive.
    (Inschrift lt. Fotographie, Gerhart-Hauptmann-Haus, Hiddensee 2003.)
     
    Es ist schon bezeichnend, bei dieser Bemerkung, die keineswegs auf ihn gezielt war, doch unmittelbar an Theodor Lessing denken zu müssen, denn als einer der unerbittlichsten unter den zeitgenössischen Kritikern dürfte Lessing zweifelsfrei gelten.  Selbst wenn allzu viele seiner Anklagen berechtigt sind, selbst wenn ihm mitunter zu Recht Visionäres unterstellt wird, seine Angriffe sind äußerst verletzend, so verletzend, daß man sich in der Tat fragen muß, warum eigentlich?
     
    Der stets angespannte Ton bei Lessing könnte allerdings auch Ausdruck einer Hilflosigkeit sein, die seinerzeit viele seiner Zeitgenossen empfunden haben dürften, ein Ungenügen am eigenen Sprach- und Ausdrucksvermögen angesichts des aufkommenden Ungeistes.  Man mochte noch so sehr am eigenen Ausdrucksvermögen arbeiten, allzu Vieles schien bereits ausgemacht, als wäre ein jeder Artikulationsversuch zum Scheitern verurteilt und müßte sich notorisch als nicht hinreichend erweisen.  Den Wenigen unter den Zeitgenossen, die sich nicht beirren ließen, die keinesfalls und zu keinem Zeitpunkt mit einstimmen sollten, die neue Tonlage zu treffen, dürfte derweil das eigene Scheitern im Ausdruck um so heftiger bewußt geworden sein.
     
    Was sich im Nachhinein auch als Vorzeichen aufkommender Verzweiflung deuten läßt, wird inmitten gewählter Ausdrucksweisen ganz besonders offenkundig:  So verwendet Ernst Bloch zu jener Zeit durchaus bewußt Motive aus der Fäkalsprache, was er ansonsten nie tut. Gerade die Wahl der Kraftausdrücke aber ist untrüglicher Ausdruck einer Hilflosigkeit, die sich darin zeigt, daß die Grenzen der Sprache hinlänglich erreicht, wenn nicht bereits überschritten wurden; schlimmer noch, daß so etwas wie Sprachabbau, Sprachrückgang, Entdifferenzierung, Verlust von Worten und Ausdrucksmöglichkeiten um sich greifen in jener Zeit:  Zuerst wandern Worte aus, dann folgen Menschen.
     
    Mit seiner Geschichtsphilosophie kritisiert Theodor Lessing Geschichtsschreibung per se als Mythen–Bildung auf eine gleichwohl sachlich berechtigte wie diskursiv äußerst prekäre, weil kaum anschlußfähige Art und Weise.  Das eigentlich Provozierende dabei ist der systematische Verzicht auf jedwede Entlastung, unverblümt soll Wahrheit ausgesprochen werden, so das Selbstverständnis Lessings, aber es sind Wahrheiten, die nicht frei machen.
     
    Bemerkenswert ist der notorisch eingehaltene Sicherheitsabstand, den Zeitgenossen stets einhalten, wenn von und über Theodor Lessing die Rede ist.  “Im Jahr 1919,” notiert Egon Friedell in seiner zweibändigen Kulturgeschichte der Neuzeit, “erschien ein sehr merkwürdiges Buch von Theodor Lessing:  ‘Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen’, ein luziferisch kühner Versuch, ergreifend in seiner bleichen Nachtschönheit und eisklaren Logizität, vielleicht der erste, die Frage, was denn eigentlich Geschichte sei, zu Ende zu denken; mit jener Schärfe, aber auch Zweischneidigkeit vollzogen, die solchem ehrfurchtslosen, sich zum Selbstzweck setzenden Beginnen anhaftet, ..” (Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. 2. Bde, Nördlingen 1976.  Bd. 2.  S. 949.)
     
    Dann ruft Egon Friedell in seiner Rolle als Moderator der Kulturgeschichte sich selbst mit auf den Plan, “ein Werk, von dem das Wort jenes anderen Lessing gilt:  ‘groß und abscheulich’, voll von giftigen Tiefgasen und nur in der Hand eines vorsichtigen Abschreibers, wie ich es bin, ohne ernste Gefahren.” (Ebd.)
     
    Das Problem mit Lessing ist, daß man ihm nicht wird verweigern können, sich berechtigterweise zu echauffieren über viele aktuelle aber auch zeitübergreifende Attitüden seiner Zeit.  Lessing ist ein Abrechner, sein Stil ist der eines unerbittlichen Anklägers.  Dennoch versteht er sich doch auch als Pädagoge, so daß man fast erschreckt anfragen möchte, was macht seine Rede denn häufig so giftig?
     
    Derweil sagt er seiner Zeit, was nicht einmal die unsere unumwunden bereit wäre, zu akzeptieren.  Die Theorie seiner Geschichtsphilosophie ist ein ausgemachter Konstruktivismus, sein Kulturrelativismus und seine Zivilisationskritik ist ein postmodernistischer Konstruktivismus. Sinn in der Geschichte, so ließe sich die Botschaft schließlich zusammenziehen, gibt es überhaupt keinen, außer dem, den wir ihr beigeben.  Die Leserschaft wird mit derartigen Negativauskünften durchweg allein gelassen.
     
    Keineswegs, so konstatiert Lessing bereits in den Vorbemerkungen, werde durch Geschichte ein verborgener Sinn, ein Kausalzusammenhang oder eine Entwicklung offenbar, sondern vielmehr sei Geschichtsschreibung erst die Stiftung dieses Sinns. (Theodor Lessing:  Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen.  [Erstausg., München 1919] München 1983.  Vgl. S. 15.) Sobald wir Wissenschaft nicht mehr bloß beschreibend, sondern erklärend betrachteten, seien wir unweigerlich auf Sinngebung angewiesen. (Ebd.  Vgl.  S. 36.)
     
    Daher werde sich die Geschichtsschreibung niemals in den Rang einer beschreibenden Wissenschaft erheben, sie könne nicht phänomenologisch arbeiten, vielmehr müsse sie immerzu Wirklichkeit für andere Wirklichkeiten unterstellen. (Ebd. vgl.  S. 36f.) Es sei eine große Erdichtung des Menschen, so zu verfahren, als sei Kausalität das Normale, als ließe sich Naturkausalität übertragen auf die Menschengeschichte. (Ebd. vgl.  S. 37f.) Motivation sei nicht die Handlung als solche, sondern das Bild, welches die Handlung ins Bewußtsein wirft. (Ebd. vgl.  S. 42.)
     
    Dann setzt Lessing mit seiner gleichwohl nicht unberechtigten Suada ein, und es ist bemerkenswert, daß man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, hier läge womöglich gar nicht der Text einer Geschichtsphilosophie vor, vielmehr die Rede eines Agitators, vielleicht in einem Bühnenstück, in einem politischen Stück selbstverständlich.  Es scheint, als müsse man den Text akklamieren, vielleicht sogar herausbrüllen, auf jeden Fall aber sollte man ihn beim Vortrag inszenieren:
     
    “Wo denn eigentlich liegen die Motive der Geschichte?  Wer hat sie? Wer trägt sie empor?  Ich meine jene Motive, von denen der Historiker faselt, indem er etwa schreibt:  ‘Der Handelsneid Englands verschuldete den Krieg von 1914.’ ‘In edlem Zorne erhob sich das gesamte Deutschland.’ ‘Der Ruf der Rache durchzitterte ganz Frankreich.’ ‘Ganz Italien war von Begeisterung durchglüht’ usw.” (Ebd. S. 43.)
     
    “Nun aber wird Geschichte bekanntlich von Überlebenden geschrieben. Die Toten sind stumm.  Und für den, der zuletzt übrig bleibt, ist eben alles, was vor ihm dagewesen ist, immer sinnvoll gewesen, insofern er es auf seine Existenzform bezieht und beziehen muß, d.h. sich selbst und sein Sinnsystem eben nur aus der gesamten Vorgeschichte seiner Art begreifen kann.  Immer schreiben Sieger die Geschichte von Besiegten, Lebendgebliebene die von Toten.” (Ebd.  S. 63.)
     
    “Jedes Blatt Geschichte, von der frühesten Ahnenzeit bis zur Gegenwart, predigt immer und immer wieder neu, daß historisch-politische Ideale Umschreibungen für praktische Absichten sind und nie etwas andres sein können, wenn auch freilich jedes Volk das andere totzuschlagen oder zu begaunern sucht in der heiligsten und reinsten Überzeugung, die Kultur, den Weltfrieden, die Sittlichkeit, das Recht und ich weiß nicht was alles zu verwirklichen.” (S. 67.)
     
    Der Anlaß zur forcierten Philippika ist eine Beobachtung, die sich in der Tat immer wieder von Neuem machen läßt, daß es ganz offenbar in Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein nur ein ganz bestimmtes maßgebliches Prinzip zu geben scheint, wonach bemessen wird, ob und wie eine Handlung Eingang findet in die Annalen der Geschichte:  Es ist einzig und allein ihr ‘Erfolg’.  In diesem Sinne schreiben dann eben stets die Sieger die Geschichte der Besiegten, diese aber sind stumm.
     
    Es scheint, als legitimiert der ‘Erfolg’ schlußendlich auch noch jedwede Perfidie und rechtfertigt post eventum mit der Zeit auch vor der Geschichte, denn allmählich verbreitet sich allgemein der Eindruck, auch der verwegenste und offenkundigste Rechtsbruch sei schlußendlich doch legitimiert, denn wer Erfolg hat, hat Recht und wird daher zumeist auch geläutert in die Annalen der Geschichte eingehen, – eine wahrhaft ernüchternde Beobachtung, die Theodor Lessing hier zur Anklage bringt.
     
    In diesem Sinne, so Lessing, sei der historische Erfolg immer das Erste, der Werthaltungsaspekt aber das Zweite.  Erfolge ziehen demnach das Wirksamwerden dementsprechender Werte erst nach sich, nicht umgekehrt verbürgen Werte den Erfolg.  Lessing, ohnehin ein erklärter Gegner des Entwicklungsdenkens im Sinne von Darwin und Spencer, konstatiert demzufolge, daß sich nicht das Wertvolle in der Geschichte durchsetzt, sondern daß sich eben als wertvoll durchsetzt, was sich durchsetzt, weil es sich durchsetzt.  Zu Beginn seiner Untersuchungen kündigt Lessing an, was sich zeigen werde:
     
    “daß Einheit der Geschichte nirgendwo besteht, wenn nicht in dem Akte der Vereinheitlichung; – Wert der Geschichte nirgendwo, wenn nicht im Akte der Werthaltung.  Sinn von Geschichte ist allein jener Sinn, den ich mir selbst gebe, und geschichtliche Entwicklung ist die Entwicklung von Mir aus und zu Mir hin.” (Ebd.  S. 19.) Keineswegs werde in der Geschichte ein verborgener Sinn, ein Kausalzusammenhang, eine Entwicklung offenbar, sondern Geschichte sei Geschichtsschreibung, eben {\it Stiftung dieses Sinnes, die Setzung dieses Kausalzusammenhangs, die Erfindung dieser Entwicklung.” (Ebd.  S. 15.)
     
    Allerdings:  Nicht erst die Geschichtsdarstellung, sondern bereits die Berichterstattung hebt Ereignisse hervor, setzt sie in Relation zu anderen Ereignissen und verschafft ihnen damit erst ihre Geschichte, indem sie die Story zum Stoff liefert, die Geschichten hinter der Geschichte.  Die reinen Daten besagen fast gar nichts, es kommt darauf an, was man daraus macht.  Insofern wird eine jede philosophische Befassung mit Geschichtsschreibung dieses notwendig Zusätzliche betrachten, in seiner Notwendigkeit und in seiner Zusätzlichkeit zugleich.
     
    Sollte die Beobachtung zutreffen, die zuletzt in der Schlüsselschrift von Theodor Lessing über Geschichte, Geschichtsschreibung und Sinngebung doch nur angedeutet ist, so muß ein solcher Befund in der Tat verstören. Angesichts dessen, was Lessing hier so vehement vor Augen führt, scheint auch der letzte verzweifelte Ausweg verschlossen, sich doch noch von diesem Skandalon zu distanzieren, daß etwas Entscheidendes an unserer Geschichts–Orientierung sehr wahrscheinlich generell nicht stimmt. Zugleich dürfte es allerdings ebenso schwer fallen, Beweise für diese Theorie anzutreten, denn Geschichte ist immer schon geschrieben.  Die Frage, wie anders sie denn hätte geschrieben worden sein müssen, ließe sich dagegen kaum thematisieren.  – Man wird allerdings manches von dem, was Lessing noch hatte fordern müssen, der heutigen Geschichtsschreibung inzwischen zugute halten, wie etwa die Sozialgeschichte oder auch die ‘Geschichte von unten’.

     

     

     

  • Anthropologie,  Ausnahmezustand,  Corona,  Corona-Diskurs,  Corona-Politik,  Diskurs,  Götter und Gefühle,  Identität und Individualismus,  Melancholie,  Motive der Mythen,  Psychosophie,  Religion,  Theorien der Kultur,  Zeitgeist,  Zivilisation

    Wenn Worte sich enthalten

    Erlösung gibt es nur durch Sprache, aber was, wenn die Worte fehlen?

    Wenn Worte fehlen, suchen wir stammelnd nach Beispielen: Es ist wie…, es ist wie…, es ist wie… – Ja wie denn?

    Wenn etwas gesagt werden soll, aber eigentlich gar nicht klar ist, was denn jetzt und vor allem wie, dann stehen die, die sich jetzt mal äußern sollen wie Lehrer vor einer Klasse von Schülern, die den Teufel tun werden, sich jetzt zu melden. 

    Keines der bekannten Worte wird sich bereit erklären für ein solches Himmelfahrtskommando, darstellen zu sollen, wie es denn so ist, ein Impfgegner zu sein und gegen den Strom zu schwingen. Ein Student sagte mal im Seminar, da müsse man aufpassen, nicht blaue Augen zu bekommen, wenn man gegen den Strom schwimmt. Auf Nachfrage erklärte er dann das köstliche Bild, die blauen Augen entstünden durch Zusammenstöße mit entgegenkommenden Fischen. 

    Gustave Doré: Die babylonische Sprachverwirrung (1865ff.).

    Im Corona-Diskurs ist Verstehen aus vielerlei Gründen ganz besonders schwierig, weil im Hintergrund tiefe religiöse Traumata das Orchester der Gefühle dirigieren und tagtäglich neue Ängste geschürt werden. Die meisten “Rechtgläubigen” bemerken nicht einmal, daß sie sich angepaßt haben und tunlichst nur angepaßte Worte verwenden aber gar nicht die eigenen. Viele beten nur nach und kommen dann auch sehr schnell ins Stammeln, wenn sie ihrerseits begründen sollen, was sie warum für richtig halten. 

    Tatsächlich ist es ungeheuer schwer, etwas zu verstehen, in dem man sich gerade befindet. Man kann in einer Höhle nicht erklären, daß man sich in einer Höhle befindet, ohne daß die, denen man das gern mitteilen möchte, schon mal davon gehört haben, daß es auch ein Außerhalb gibt. Das ist die berühmte Allegorie in Platons Höhlengleichnis  mit dem sich Platon an den Athenern bis in aller Ewigkeit revanchiert, daß sie seinen geliebten Lehrer zum Tode verurteilt haben, weil er den Mainstream gestört hat beim Nichtdenken. 

    Die Sprache ist das Haus des Seins, sagt Heidegger und in der Tat ist diese der “Weinberg”, von dem die Christen so gern reden. Die Erweiterung des Ausdrucksvermögens ist alles entscheidend.

    Das ist ja gerade das Schlimme an einem Trauma, es lastet auf der Seele, ohne daß man sich davon erleichtern könnte. Das würde nur gehen, wenn man es mit-teilen würde. Aber dazu sind Worte nötig, die sich freiwillig melden und sagen: Ich versuche das jetzt mal.  Aber die meisten dieser mutigen Worte kommen dabei um. Mutig sein allein genügt nämlich nicht.

    Außerdem ist da noch die Grammatik, und die ist weit mehr, als nur das, was man im Deutschunterricht zu hören bekommt. In der Philosophie gibt es “Ontologien”, das sind “Seinslehren”, die zu anderen Zeiten ernsthaft vertreten und auch geglaubt wurden, wo dann eben so Nebensächlichkeiten drin stehen, wie etwa die “Natur des Menschen, des Mannes oder auch der Frau”.

    Man sollte nicht zu hart mit anderen Epochen ins Gericht gehen, denn diese hatten auch ihre Problem, nur andere als wir. – Man hat das eben geglaubt, daß es so etwas wie eine fixierte Natur gibt und das war wohl auch gut so, weil einem die Welt ohnehin bereits über den Kopf gewachsen war. 

    Nun nimmt im Zuge der Kulturgeschichte das sprachliche Differenzierungsvermögen immer weiter zu. Daher braucht es ständig neue, bessere, tiefere Worte, aber auch die Grammatik muß sich öffnen für die neuen Fälle des Lebens. Sie darf und soll neuen Lebens- und Empfindungsformen nicht ihre Existenzberechtigung aberkennen, indem sie gar nicht zuläßt, das so etwas überhaupt gesagt werden kann. – Wenn die Worte falsch sind, führen sie in die Irre, wenn die Grammatik nicht mitspielt, dann bleibt nur Stammeln, das keiner versteht. 

    Daher müssen wir mit dem, was wir zu sagen hätten, aber noch gar nicht wirklich mit-teilen können, ziemlich lange hadern. Wir müssen mit der Schulklasse unserer Worte viele Diskussionen führen, bis einige sagen, ich kenne da wen, der das kann, den hole ich mal.  – Wir brauchen die Musen dazu, denn erst sie schenken uns die nötigen Inspirationen, etwas Unsägliches doch zur Sprache zu bringen. 

    Einer der Anklagepunkte im Prozeß gegen Sokrates, neben dem ehrenwerten Vorwurf, er würde die Jugend (zum Denken) verführen, bestand darin, er würde “fremde Götter” einführen. Man sollte hier nicht auf der Überholspur denken, sondern das Ganze erst einmal auf sich, wie auf ein Kind wirken lassen. Was kann das bedeuten, fremde Götter nicht einführen zu dürfen? – Das ist das Schöne am Denken, sich selbst dabei zusehen zu können, wie man “dahinterkommt”. 

    Also, die Griechen hatten den Polytheismus und das muß man wiederum auch betrachten als ziemlich kostspielige Angelegenheit. Man kennt das noch in der Debatte über die Feiertage, wo doch damals die evangelische Kirche einen Feiertag abgetreten hat, nur um der armen Wirtschaft zu helfen. Ja, an Feiertagen wird in vielen Sektoren nicht gearbeitet, sondern gezahlt, vor allem von denen, die sonst immer kassieren. 

    Sokrates sprach von seinem “Daimonion”, einer Art Geist, eine innere Stimme, die er hört. Sie würde ihm nie etwas anraten zu tun, sondern sich nur melden, sobald er etwas Ungutes zu tun beabsichtigen würde. – Wenn ich damals vom Athener Gericht mit einem Gutachten betraut worden wäre, hätte ich darzustellen versucht, daß es sich bei dieser Instanz nicht um einen neuen, fremden Gott handeln würde, der unerlaubterweise eingeführt worden sei, sondern um eine Ausdifferenzierung in der Psyche und in der Seele des Sokrates, die wegweisend werden sollte, die sich hier nur ausnahmsweise schon einmal melden würde. 

    Ich stelle mir also vor, daß es so etwas wie eine Einfuhrbehörde für Götter gegeben haben muß. Wenn da also mit einer neuen Unterwerfung auch die neu unterworfenen Götter eingeführt werden müssen, dann wird man sich gefragt haben, also, haben wir die nicht schon, wer unsere Götter könnte das machen? So hat Zeus an die hunderte zusätzlicher Namen, das sind alles Götter aus einverleibten Häuptlingstümern oder Königreichen mit ihren höchst spezifischen Zuständigkeiten. 

    Es ist unerläßlich, den Göttern und zwar allen das Ihrige zu geben, wo nicht, droht Ärger. Etwa als, kurz bevor die Athener in den Krieg zogen, irgendwelche Jugendlichen an den Hermesstauetten, die an den Straßen zu Hunderten standen, mal so eben die erigierten Penisse abgeschlagen haben. 

    So ist etwa die Aphrodite mit rotem Haar, weil sie eben aus Zypern kommt, wo auch das Kupfer herstammt. Wenn man also die Aphrodite ungebührlich behandeln würde, verdirbt man es sich nicht nur mit der Schönheit, sondern auch mit den Frauen, mit der Rolle der Frau als solcher und dann auch noch mit den Zyprioten. – Daher muß allen Ernstes eine Kommission darüber entscheiden, was man denn mit einem konkreten Gott, der da neu aufgetreten ist, anstellen soll. Und man hat die neue Kompetenz des Sokrates einfach völlig falsch gedeutet und gar nicht verstanden. 

    Wenn die Worte sich drücken, wenn die Grammatik die Arme verschränkt und bei so etwas nicht mitmachen will, dann gibt die Sprache mit Bedauern zu verstehen, daß sie da jetzt auch nicht weiterhelfen könnte. Dann hat man ein Problem mit sich und den Anderen. Man versteht sich selbst nicht wirklich, weil die Worte fehlen, man wird nicht verstanden, weil die Grammatik streikt für solche Fälle und zugleich spuken da noch tiefe religiöse Traumata, von denen die meisten nicht einmal etwas ahnen. 

    Und dann wird zu Vergleichen gegriffen, die einfach schräg rüberkommen müssen. Historische Vergleiche sind immer problematisch, weil es ja konkrete Verhältnisse, Ereignisse und Folgen sind, die sich so, auf dieselbe Art und Weise, ganz gewiß nicht wiederholen. Andererseits sind wir darauf angewiesen, mit Analogien zu arbeiten, wenn kein Wort sich traut, überhaupt Stellung zu nehmen. 

    Wir sollten das, was die Sprache ist und was sie ausmacht, was sie kann, wo sie ihre Grenzen hat und was wir tun können, uns mehr Ausdruck zu verschaffen, endlich anders sehen. Dieses nachrichtentechnische Modell von Sender, Empfänger und Botschaft ist grottenschlecht und absolut unangemessen.

    Es ist vielmehr so, daß wir miteinander im Dialog kooperieren müssen, wenn wir etwas vorstellbar machen wollen, um dann erst das Urteil eines Freundes oder einer Freundin zu erbitten. Andere können uns erst dann wirklich etwas anraten, wenn sie uns ver-stehen, das heißt, wenn sie aus unserer Position heraus ihre Stellungnahme abgeben. – Zu hoch? Da kann ich dann auch nicht mehr helfen. 

    Man achte bitte einmal darauf, wie viele “Regieanweisungen” da einander gegeben werden: “Nein, so ist das nicht. Du mußt Dir das anders vorstellen, etwa wie, wenn…” – Verstehen ist Arbeit, auch wenn das unter Freunden nicht so gesehen wird. Denken ist ähnlich, es ist ein Dialog der Seele mit sich selbst.

    Und dieses Bohren ganz dicker Bretter, wie Max Weber die Politik charakterisiert, um Gesinnungstäter, Tugendwächter und Hitzköpfe von irgendeine Propaganda durch die Tat abzubringen, ist genau das. Politik ist, wenn sie wirklich etwas leistet, der Versuch, neue Zugänge zu finden, durch Sprache, Verstehen und neue Gemeinsamkeiten.

    Das macht dann in der Tat den Jargon der Diplomatie so interessant. Was macht man, wenn man nicht einmal “Beziehungen” zueinander hat? Man besucht sich, spricht miteinander, sucht nach “Gemeinsamkeiten”, bis man dann eine “gemeinsame Gesprächsgrundlage” findet, auf der weitere “Konsultationen” stattfinden können. Und das wäre nur der alleranfänglichste Anfang.

    Impfgläubige wollen immer gleich mit den Beitrittsverhandlungen beginnen. Sie sprechen den Ungläubigen einfach ab, daß es so etwas wie sie überhaupt geben könne.  – Es ist aber naiv zu erwarten, daß es in der Corona-Krise nur einen einzig richtigen Glauben gibt.

    Corona ist nur so stark, weil viele unserer Systeme erstaunlich schwach sind. Es ist gut zu wissen, dann wird man in Zukunft weit weniger vertrauen, sondern sehr viel mehr kritisch sein und bleiben müssen. – Aber auch das muß erst einmal zur Sprache gebracht werden, mit den richtigen Worten und einer Grammatik, die neuen Gedanken aufgeschlossener ist als die Angstrhetorik unserer Tage.  

    Es bleibt nur, mit dem Kopf immer wieder gegen die Grenzen der Sprache anzurennen und derweil die Musen darum zu bitten, das Gespür für die richtigen Metaphern zu schenken.